Mahnwache 09 Nov mb 1200

"wie konnte es passieren?"

Hauptkategorie: GeDenkarbeit Kategorie: Mahnwache Drucken E-Mail

... Mehr als 120 Menschen waren eingeschlossen im „Sonnenblumenhaus“. Männer, Frauen, Kinder, ein Journalistenteam, der Ausländerbeauftragte der Stadt, Helferinnen. Von draußen wurden Molotowcocktails geworfen. Und immer, wenn wieder ein Feuer loderte, jubelten die Versammelten. Es waren Tausende, die zuschauten, grölten und klatschten. Die Polizei war zu schwach aufgestellt, konnte dem, was da geschah, nichts Entscheidendes entgegensetzen. Die Feuerwehr konnte nicht löschen. Angreifer drangen in das Haus ein, mit Stöcken bewaffnet. Der menschenfeindliche Hass war mitten in der Gesellschaft angekommen.
Es müssen unendlich furchtbare Stunden gewesen sein. Stunden, in denen Sie alle in diesem Haus Todesangst verspüren mussten. Nur durch eigene Kraft, durch Mut und am Ende Glück sind die Eingeschlossenen der Katastrophe entgangen, konnten sich selbst retten – erst aufs Dach, am Ende über einen anderen Aufgang in Busse, in eine Turnhalle. Aber die Todesangst, die nahmen sie mit. Und die Angreifer? Sie haben angegriffen, weil sie sich ausgeredet hatten, es mit Menschen zu tun zu haben. Es dauerte Jahre, bis zumindest einige Täter verurteilt wurden, wenngleich nur zu Bewährungsstrafen….
Das Bild vom Sonnenblumenhaus hat sich als Symbol in die Erinnerung unseres Landes eingebrannt. Rostock-Lichtenhagen 1992: Das waren die schlimmsten rassistischen Übergriffe in Deutschland bis dahin. Es folgten weitere hasserfüllte, menschenfeindliche Verbrechen: die Mordanschläge von Mölln, von Hünxe, von Solingen, von Lübeck, Kassel, Hanau und der Angriff auf die Synagoge in Halle. Eine Spur rechter Gewalt zog sich durch Deutschland.
Wenn wir darüber sprechen, kommen wir schnell an den Punkt, an dem jemand sagt: Was hier passiert ist, war unvorstellbar. Das sagt sich leicht, und es ist als Gefühl höchst nachvollziehbar. Aber es ist falsch.
Wir haben aus den dunkelsten Kapiteln unserer deutschen Geschichte gelernt: Die Idee von der Unvorstellbarkeit ist ein verhängnisvoller Denkfehler. Unvorstellbarkeit ist eine Schutzformulierung, um sich nicht weiter damit befassen zu müssen, was gerade geschieht – oder wie geschehen konnte, was geschehen ist. Wir dürfen uns nicht hinter der Behauptung von Unvorstellbarkeit verstecken.
Die entscheidende Frage ist doch: Wie konnte es passieren?
Diese Frage darf nicht in der Luft hängenbleiben. Sie zu beantworten bedeutet, präzise zu benennen, was war. Es bedeutet, Ursachen zu finden und Verantwortung zu übernehmen…


Auszüge aus der Gedenkrede des Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier bei der Gedenkfeier zum 30. Jahrestag der mehrtägigen pogromartigen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen vom August 1992.

Das Kulturamt der Stadt Wittlich, das Emil Frank Institut und der Arbeitskreis "Jüdische Gemeinde Wittlich" laden seit vielen Jahren zum Gedenken an die Progromnacht 1938 zu einer Mahnwache auf dem Marktplatz ein. 

Die Texte wurden während der einstündigen Mahnwache am 09.November 2022 vorgetragen. Zusammengestellt hat sie der Arbeitskreis.

Diese Form der Erinnerungs- und Gedenkarbeit gibt es seit Ende der der 70' iger Jahre. Damals zunächst initiiert von der Wittlicher "Pax-Christi" Gruppe vor der ehemaligen Synagoge.

Foto: Werner Bühler