Lehren...

Hauptkategorie: GeDenkarbeit Kategorie: Mahnwache

"...Wir wissen eigentlich alle: Worte können Waffen sein. Mit Worten kann man das Gewaltpotenzial einer Gesellschaft aktivieren – und man kann es instrumentalisieren. Damals war die politische Debatte so, dass sie die Gewalt befeuerte. Wir haben auch in jüngerer Zeit schmerzlich erlebt, wie aus Worten Taten werden. Die Häme in sozialen Netzwerken erinnert uns daran, wie kurz der Weg zur Entmenschlichung des Gegenübers gerade im digitalen Raum sein kann.
Es gilt also, verbal abzurüsten. Ich beobachte mit Sorge, wie sich die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen verschiebt. Dies zu verhindern muss, bei aller Notwendigkeit der Kontroverse, die oberste Pflicht derer sein, die sich zu Wort melden. Politiker, Medien, Publizisten sind hier allesamt in einer ganz besonderen Verantwortung. Und für uns alle gilt es, den Mechanismen der sozialen Medien zu widerstehen, welche ausgerechnet das widerlichste verbale Schwert mit größter Reichweite belohnen.
Die zweite Lehre betrifft jeden von uns ganz direkt – und sie betrifft auch diejenigen in politischer Verantwortung: Der Staat muss jederzeit alles ihm Mögliche tun, jeden einzelnen Bürger in der offenen Gesellschaft gegen Angriffe zu schützen. Ein Staat, der zu lange zuschaut oder unterreagiert, schützt die Gefährdeten nicht ausreichend vor den Gefährdern. Ein Staat, der im entscheidenden Moment abwesend ist, nimmt furchtbare Folgen in Kauf. Die Notwendigkeit, unsere Demokratie wehrhaft zu machen, ist eine zentrale Erkenntnis aus unserer Geschichte, auch unserer jüngeren und jüngsten Geschichte. Das dürfen wir nicht vergessen.
Fürs friedliche Zusammenleben allerdings kommt es auch auf jeden Einzelnen an. Es war jederzeit möglich, Nein zu sagen. Es war möglich, nicht zu applaudieren, als ein Brandsatz durchs Fenster flog. Es war möglich, nicht in den Sprechchor einzufallen, der drei Nächte lang ertönte. Es war nicht nur möglich: Der Verzicht auf Hetze und Gewalt ist in einer offenen Gesellschaft erste Bürgerpflicht.
Und die dritte Lehre aus Lichtenhagen ist für uns heute besonders wichtig. Wenn eine Gesellschaft unter Veränderungsdruck steht, dann ist der Weg der Radikalisierung noch kürzer, weil er vermeintlich einfache Lösungen anbietet, ich würde sagen: vorgaukelt. Die einfachste aller Lösungen ist die Suche nach einem vermeintlich Schuldigen. Die Konfrontation mit einer ungewissen Zukunft scheint diesen Reflex zu bestärken: die Suche nach dem Glied in der Gesellschaft, das zum Sündenbock gemacht wird. Oft reicht dafür Verschiedenheit aus. Aus ihr wird dann Feindschaft konstruiert. Das ist der zerstörerischste Reflex für eine offene Gesellschaft..."


 Auszüge aus der Rede des Bundespräsidenten Walter Steinmeier zum 30. Jahrestag von Rostock-Lichtenhagen