Die neue Synagoge von 1910

 

Synagoge Zeichnung Vienken Front Seite 1200

 

Im Leben der Stadt


Dem mit großem architektonischen Können und mit dem Stolz einer gewachsenen und wirtschaftlich erfolgreichen Gemeinde errichteten Bau war nur eine kurze Blütezeit gegönnt. Nur etwas mehr als 20 Jahre vergingen, bis die Nationalsozialisten die Macht übernahmen.

Die Synagoge war der Mittelpunkt der Gemeinde. Hier fanden die Gottesdienste statt, und es wurden natürlich auch die verschiedenen Feste im Jahreskreis und im persönlichen Leben dort gefeiert.

In den 1920er Jahren wurden die Gottesdienstzeiten regelmäßig im Wittlicher Tageblatt veröffentlicht. Gottesdienstzeiten SynagogengemeindeWil WK 400Sie variierten je nach Jahreszeit, da sich der Anfang und das Ende des Sabbats nach dem Sonnenuntergang richtete. Es fanden Gottesdienste am Freitagabend, am Samstagmorgen und am Samstagabend statt. Manchmal gab es auch Gebetszeiten am Nachmittag des Sabbats oder an den Wochentagen. Der längste Gottesdienst war der mit den Lesungen aus der Thora (den fünf ersten Büchern der Bibel) und den Propheten (den anderen biblischen Büchern) am Samstagvormittag. Der Nachmittag des Sabbats war durch besondere Aktivitäten für die Kinder und Jugendlichen geprägt.

In Wittlich gab es keinen Rabbiner. Die Gottesdienste und die anderen Aufgaben im Gemeindeleben übernahm der Lehrer der jüdischen Schule, der zugleich Kantor war. Nach der Einweihung der neuen Synagoge war dies zunächst Julius Kann, der sowohl ein Harmonium hatte anschaffen lassen als auch einen gemischten Chor gegründet hatte. Er starb 1920 und wurde auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt. Ihm folgte David Hartmann im Amt, der bis zu seiner Auswanderung nach Israel nach dem Novemberpogrom 1938 in Wittlich tätig war.  

Julius Kann 200 FJS

David Hartmann EFI Archiv 300Auch wenn das Verhältnis zwischen Juden und Christen in Wittlich in der Zeit vor dem Nationalsozialismus entspannt war und man beispielsweise an den Beerdigungen eines jüdischen Nachbarn teilnahm, war ein Besuch in der Synagoge eher ungewöhnlich. Vielleicht fand er anlässlich einer Hochzeit oder ähnlichen Festen statt. Die meisten Wittlicher werden die Synagoge in ihrer Zeit als Gotteshaus kaum von innen gesehen haben. Das galt allerdings, auf die Katholiken bezogen, auch für das protestantische Gotteshaus.


Dr. Marianne Bühler

Qu.:Marianne Bühler, „Eine Stätte der Andacht und ein Ort des Friedens“. Die Synagoge im Leben Wittlichs und der jüdischen Gemeinde, in: Reinhold Bohlen/ René Richtscheid (Hrsg.), 100 Jahre Synagoge Wittlich. Festschrift (Schriftenreihe des Emil-Frank-Instituts Bd. 12), Trier 2010, S. 52-61

Gottesdienstanzeige: Wittlicher Kreisblatt von 1922, Kreisachiv Kreis Bernkastel-Wittlich
Fotos: Franz-Josef Schmit und Emil Frank Institut, Wittlich