Die Anklageschrift

Kategorie: Das Jahr 1938

Die Anklageschrift der Oberstaatsanwaltschaft beim Landgericht Bonn vom 31. Juli 1952 zum Novemberpogrom in Wittlich
(gekürzte Abschrift)

Angeklagt werden:

1. Der Kaufmann Walther Kölle, geb. am 8.02.1897 in Köln, wohnhaft in Wesseling, Hauptstraße 69, Deutscher, verheiratet, nicht vorbestraft
2. Der kaufmännische Angestellte Fritz Ancel, geb. am 17.07.1900 in Frankfurt/M, wohnhaft in Essen-Steele, Steelerstr. 465, Deutscher, verheiratet, nicht vorbestraft

Beide Angeschuldigte werden angeklagt, zu Wittlich und Umgebung am 10.11.1938 als Rädelsführer in einer öffentlich zusammengerotteten Menschenmenge mit vereinten Kräften gegen Sachen, nämlich gegen die Inneneinrichtung der Synagoge in Wittlich sowie gegen Geschäfts- und Wohnungseinrichtungen jüdischer Bürger in Wittlich und Umgebung, Gewalttätigkeiten begangen zu haben.

Teile zur Anklage gegen Kölle wegen mehrfacher Urkundenfälschung und wegen Verschaffung von rechtswidrigen Vermögensvorteilen sowie Drohung mit Terrormethoden gegen den REVUE-Journalisten, der den unter falschem Namen untergetauchten Kölle entlarvt hatte, sind in der Abschrift weggelassen.

 


 

 

Wesentliches Ergebnis der Ermittlungen:

Am Morgen des 10.11.1938 erhielt der Angeschuldigte Kölle in seiner Eigenschaft als Kreisleiter der NSDAP seinen eigenen Angaben nach von der Gauleitung in Koblenz durch Fernspruch die Anweisung, als Reaktion auf die Ermordung des Legationsrats vom Rath in Paris im Kreise Wittlich eine Vergeltungsaktion gegen die dort lebenden Juden in der Weise durchzuführen, daß die vorhandenen Synagogen sowie die Wohnungseinrichtungen der jüdischen Bürger zu zerstören seien. Es soll ferner empfohlen worden sein, die Aktion mit einem größeren Personenkreis durchzuführen, um sie der Öffentlichkeit gegenüber als Ausdruck der Volkswut in Erscheinung treten zu lassen. Kölle verständigte daraufhin sofort den Ortsgruppenleiter der NSDAP und Bürgermeister von Wittlich, Dr. Hürter, von der durchzuführenden Aktion mit dem Hinweis, daß zunächst ein Appell auf dem Marktplatz stattfinden werde, bei dem dann die näheren Einzelheiten der Aktion bekanntgegeben würden. Ferner ließ er die Angehörigen seiner Dienststelle und der Kreisverwaltung der DAF sowie die erreichbaren Amtsträger der NSDAP und Angehörigen der Gliederungen der NSDAP auf den Hof der Kreisleitung bzw. auf den Marktplatz in Wittlich beordern. Den teils in Uniform, teils in Zivilkleidung erschienen Angehörigen der NSDAP und ihren Gliederungen wurde sodann von dem Angeschuldigten Kölle bzw. dessen Stab der Sinn es Appells und Einzelheiten für die Durchführung der Aktion in der Stadt Wittlich und der Umgebung bekannt gegeben.

Als der Angeschuldigte Ancel, der erst an demselben Morgen von einer Dienstreise nach Wittlich zurückgekehrt und deshalb nicht vorher verständigt worden war, auf dem Weg zum Büro der Ortsgruppenleitung der NSDAP zwischen 8 und 9 Uhr auf die Ansammlung am Marktplatz stieß, waren die einzelnen Einsatzgruppen schon aufgestellt, Ancel schloß sich, nachdem er über den Sinn des Appells informiert worden war, einer überwiegend aus SA-Männern seiner Standarte bestehenden Gruppe, die in den Ortschaften der Umgebung von Wittlich wirken sollte, an, und übernahm die Führung dieser Gruppe. Mit dieser Gruppe, die über 2 große PKW verfügte und daher beweglich war, fuhr der Angeschuldigte Ancel seinen eigenen Angaben nach den ganzen Tag über bis zum späten Nachmittag die Ortschaften im Kreise Wittlich ab und zerstörte, zum Teil selbst Hand anlegend, die Wohnungen und Geschäftseinrichtungen der in diesen Dörfern lebenden jüdischen Bürger. Sobald die Gruppe des Angeschuldigten Ancel, der die Kunde ihres Wirkens gewöhnlich schon vorausgegangen war, in einem Dorf auftauchte, schlossen sich ihr jeweils Angehörige der örtlichen Parteiverbände und sonstige Judengegner an, bezeichneten der Gruppe die Wohnungen der jüdischen Bürger und halfen, verschiedentlich in Teilgruppen aufgelöst, das Zerstörungswerk durchzuführen und zu vollenden. In der Ortschaft Osann bei Wittlich, in der sehr viele jüdische Bürger lebten, wurde auch die dortige Synagoge zerstört. An der Demolierung dieses jüdischen Gotteshauses war der Angeschuldigte Ancel, der in diesem Ort Zerstörungen in verschiedenen jüdischen Wohnungen leitete und auch persönlich mitwirkte, nach seiner unwiderlegbaren Einlassung nicht beteiligt. Das letzte Opfer der Gruppe Ancel, dessen Wohnungseinrichtung zusammengeschlagen wurde, war ein jüdischer Metzger in Hetzerath, der von der Gruppe beim Schlächten (sic!, d.h. Schächten) eines Tieres betroffen worden war. Von den Teilnehmern der Zerstörungsaktion wurde den heimgesuchten Juden in zahlreichen Fällen das gesamte vorhandene Bargeld abgenommen. Der Angeschuldigte Ancel will dieses Geld jeweils sofort an sich genommen und in Wittlich, das er auf den Fahrten von Dorf zu Dorf mehrfach passierte, an den Leiter der Polizeibehörde restlos unter Bezeichnung der Eigentümer abgeführt haben. Nach der eidlichen Aussage des Zeugen Hubert, dem damaligen Leiter der Polizeibehörde in Wittlich, sind diesem tatsächlich von Ancel verschiedene Beträge unter Angabe der Eigentümer abgeliefert worden, so daß ein sicherer Nachweis, daß Ancel sich bei dieser Gelegenheit auch persönlich bereicherte, nicht geführt werden konnte. Die übrigen Teilnehmer der Gruppe Ancel sind nicht ermittelt worden.


27 Eisenlütticken 2 500Die Ausschreitungen gegen die Juden in der Stadt Wittlich selbst setzten nach den Bekundungen der unbeteiligten Tatzeugen Mehs und Fischer in der Hauptsache erst zwischen 10 und 11 Uhr mit der Demolierung der Synagoge in der Himmeroderstraße ein. Der Angeschuldigte Kölle hatte, wie der Zeuge Dr. Hürter bekundet, auf dem Marktplatz die Zerstörung der Synagoge als Auftakt der Aktion bezeichnet. Er setzte sich an die Spitze einer Gruppe von etwa 30 Mann, die unter Absingen aufreizender antisemitischer Kampflieder vom Marktplatz durch die Himmeroderstraße zur Synagoge zog. Vor der Eisenhandlung Lütticken in der Himmeroderstraße hielt die Gruppe eine Zeitlang, um sich auf Anordnung des Angeschuldigten Kölle mit Zerstörungswerkzeugen wie Äxten und Beilen usw., die in dem genannten Geschäft in erheblichen Mengen aufgekauft wurden, auszurüsten. Mit geschulterten Äxten und Beilen zog die Gruppe weiter zur Synagoge, vor der sich inzwischen eine größere Menschenmenge angesammelt hatte. Nach der Aussage des Zeugen Mehs war nämlich schon eine Stunde vorher ein kleiner Trupp, der mit einem Kraftwagen vorgefahren war, in die Synagoge eingedrungen, hatte dort mit Zerstörungen begonnen, war aber schon verschwunden, als der Angeschuldigte Kölle mit seiner Gruppe erschien. In der ersten Reihe der Gruppe befand sich der Angeschuldigte Ancel, der inzwischen gerade von einer auswärtigen Aktion nach Wittlich zurückgekehrt war. Die Gruppe des Angeschuldigten Kölle drang in die Synagoge ein, verteilte sich in den Kirchenraum (sic!), auf die Empore und das Dachgeschoß und begann sofort mit dem Zerstörungswerk. Dieser Gruppe drängten sofort zahlreiche Personen aus der Zuschauermenge nach. Um diesen Leuten Eingang zu verschaffen, schlug der inzwischen verstorbene SS-Obertruppführer Wolff mit einem Vorschlaghammer die linke Flügeltür der Synagoge ein. In etwa 15 Minuten wurden in der Synagoge die dort vorhandenen Kult- und Eirichtungsgegenstände beschädigt bzw. zerstört, u.a. ein großer Kronleuchter heruntergeschlagen. Durch die zertrümmerten Fenster flogen Bücher und Zylinderhüte auf die Straße, vom Dach der Synagoge wurde der Davidstern (Anm.: es waren zwei) abgerissen und auf die Straße geworfen. Nach Beendigung des Zerstörungswerks gliederte sich die vom Angeschuldigten Kölle geführte Gruppe, von der außer den beiden Angeschuldigten und dem SS-Obertruppführer Wolff nur noch die Zeugen Dr. Hürter und Teusch als Teilnehmer ermittelt werden konnten, in mehrere kleine Gruppen auf, um nunmehr planmäßig mit der Zerstörung der Wohnungen jüdischer Bürger zu beginnen. Während der Angeschuldigte Kölle mit einigen seiner Männer den Tatort in Richtung Marktplatz verließ, begab sich der Angeschuldigte Ancel mit einigen Teilnehmern zu dem Hause des Juden Willi Ermann an der Lieserbrücke, wo er sich von diesem die gesamten Barmittel aushändigen ließ. Die Wohnungseinrichtung des Ermann, u.a. ein wertvoller Flügel, wurde vernichtet. Eine andere Teilgruppe, bei der sich der schon oben genannte Wolff befand, drang Punkt 11 Uhr in das in unmittelbarer Nähe der Synagoge gelegene Haus des Heinrich Ermann ein und demolierte dort die gesamte Wohnungseinrichtung, wie der Zeuge Fischer beobachtete. Anschließend wurden weitere Wohnungseinrichtungen jüdischer Bürger zerschlagen. Der Angeschuldigte Kölle leitete persönlich noch zwischen 11 und 12 Uhr die Zerstörungsaktion im Hause des Juden Dublon, Burgstraße 36. Bei dieser Gelegenheit drangen 1 oder 2 Mann der Gruppe auch in den Wohnraum der nichtjüdischen Zeugin Schroden, die in diesem Hause ein Obst- und Gemüsegeschäft pachtweise betrieb, ein, und richteten mit ihren Beilen Schaden an dem Mobiliar an. Erst als der im Nachbarhause wohnende Zeuge Josef Mehs, der auf den Lärm hin der Frau Schroden zu Hilfe geeilt war, den auf der Straße vor dem Hause stehenden Kölle wiederholt und eindringlich darauf hinwies, daß Frau Schroden doch keine Jüdin sei, ging dieser mit Mehs in das Haus hinein, gebot den weitere Zerstörungen Einhalt und übergab der Frau Schroden 100 RM als vorläufigen Schadensersatz.

Der Angeschuldigte Kölle, der zunächst auf das entschiedenste bestritten hatte, Anweisungen zur Durchführung der Aktion am 10.11.1938 gegeben und diese geleitet zu haben, vielmehr behauptet hatte, er habe sofort, als er von dem Wirken eines Zerstörungstrupps in der Synagoge erfahren hätte, der weiteren Zerstörungstätigkeit Einhalt geboten, hat schließlich zugegeben, die Aktion gegen die Synagoge in Wittlich angeordnet und persönlich geleitet zu haben. Er bestreitet aber weiterhin, die anschließenden Ausschreitungen gegen jüdische Bürger in Stadt und Kreis Wittlich (Zerstörung der Wohnungen und Geschäftseinrichtungen) angeordnet, vorgenommen und an ihnen in irgendeiner Form teilgenommen zu haben. Er will sogar im Laufes des 10.11.1938 und in den folgenden Tagen nicht einmal etwas von solchen Ausschreitungen mit Ausnahme des Falles Schroden erfahren haben. Diese Einlassung, die schon dem ganzen Geschehnisablauf nach unglaubwürdig ist, wird insbesondere durch die Angaben des Mitangeschuldigten Ancel und der Zeugen Dr. Hürter und Fischer widerlegt, aus denen hervorgeht, daß auch die Zerstörungsaktion in den Wohnungen der jüdischen Bürger planmäßig vor sich ging. Daß Kölle zumindest noch bei dem Zerstörungswerk im Hause Dublon-Schroden persönlich als Rädelsführer beteiligt war, ergibt sich eindeutig aus den Bekundungen der Zeugen Schroden, Josef Mehs und Gertrud Backes.

Der Angeschuldigte Ancel gibt seine führende Beteiligung an der Zerstörung der Wohnungseinrichtungen jüdischer Bürger im Landkreis Wittlich uneingeschränkt zu…

Quelle: 

Diese Abschrift wurde angefertigt nach einem Dokument im Nachlass von M.J. Mehs, dem die Anklageschrift am 17. Juli 1952 vom damaligen Vorsitzenden des Bundestagsausschusses zum Schutze der Verfassung zugestellt worden war, dem auch MdB Mehs angehörte. Dr. Menzel verfasste ein kurzes Anschreiben, in dem es u.a. hieß: Es ist bemerkenswert, daß die Angeklagten trotz der Schwere der Vorwürfe, und obwohl es sich um ein Verbrechen handelt, nur sehr kurzfristig inhaftiert waren. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Angeklagte Kölle jahrelang unter falschem Namen aufgetreten ist, ist es unverständlich, daß nicht Fluchtverdacht angenommen worden ist.

Autor: Franz-Josef Schmit, November 2020

Literatur

  • Mehs, Matthias Joseph: Tagebücher vom November 1929 bis September 1946. Hrsg. von Günter Wein und Franziska Wein. 2 Bd., Trier 2011.
  • Petry, Klaus: Wittlich unter dem Hakenkreuz. 3. Teil der Stadtgeschichte. Wittlich 2009.
  • Zeitenwende. Das 20. Jahrhundert im Landkreis Bernkastel-Wittlich. Bearbeitet von Erwin Schaaf. Wittlich 2000.
  • Wein-Mehs, Maria: Juden in Wittlich 1808 – 1942. Wittlich 1996.
  • Einbezogen sind eigene Recherchen des Verfassers zum Nationalsozialismus in Wittlich.