Der Boykott am 01. April 1933

Aus dem Tagebuch von Matthias Joseph Mehs

Kategorie: Der Boykott

Zeitzeugen


Matthias Joseph Mehs, 1893 - 1976, Wittlicher Bürger, Vorsitzender der Zentrumsfraktion im Stadtrat, hat regelmäßig Tagebuch geschrieben und u.a. die Verhältnisse am 01. April 1933 in der Stadt Wittlich beschrieben und fotogafisch dokumentiert.  

 1. April 1933

"Ich verzeichne heute das Menschenunwürdigste, was ich je erlebt habe. Uber die Juden ist heute Morgen Punkt 10 Uhr der wirtschaftliche Boykott verhängt worden. Auch hier in Wittlich.
Um 10 Uhr marschierten vom Hotel Zahnen SA-Männer rnit 10 oder 12 großen Schildern in einem größeren Abstand voneinander in die Stadt; auf den Schildern standen Schriten wie etwa: ,,Rechtsanwalt Dr.Archenhold ist ein Jude. Meidet ihn“, oder "Hier wohnt ein Jude, meide seine Bude!"  "Die Juden sind an unserm Unglück schuld“
,,Blutsauger“ und ähnliches. Nachdem sie diese groBen Schilder durch die Stadt getragen hatten, stellten sie sie vor die einzelnen jüdischen Geschäfte.

Zwei SA-Männer blieben dabei stehen, um die Leute vom Betreten der Geschäftshäuser abzuhalten und sie einzuschüchtern. Vor dem Hause Emil Franks, des anständigsten Juden, den man sich denken kann - Vorsteher der jüdischen Gemeinde —, stellten sie ausgerechnet das Schild ,,Blutsauger“ auf. Sämtliche jüdischen Geschäfte hatte man vorher dadurch gezeichnet, daß man ein großes schwarzes viereckiges Plakat mit einem großen gelben Punkt ans Haus oder an die Fenster geklebt hatte. Vor dem Haus Ermann-Tobias in der Himmeroderstraße, ein harmloses Geschäftchen, hatte man zum Hohn einen kleinen Jungen. der noch nicht in die Schule geht in SA-Uniform zum Aufpassen aufgestellt.

Ich schreibe meine Eindrücke gewiß nur für mich nieder, kein Mensch soll sie vorläufig zu lesen bekommen, ich will nur das festhalten, was ich beim Anblick dieses Schauspiels heute in Wittlich empfinde: es ist ekelerregend. es ist unmenschlich. es ist unchristlich. es ist ein Schandfleck an der deutschen Kultur. Gewiß, der Jude, speziell der zersetzende jüdische Geist hat sich zu breit gemacht, auch schon vor dem Kriege, man soll ihn in seine Schranken verweisen. Aber was wir heute sehen und erleben ist nicht notwendig, das hat mit Anstand, mit deutschem Wesen, mit Menschlichkeit nicht mehr zu tun. Es ist einfach Barbarei. Und Dummheit dazu! Wir ruinieren unsere Wirtschaft, wir bringen die ganze Welt gegen uns auf, schänden unseren guten Namen mit einer Tat, die grausames, finsteres Mittelalter gezeugt haben könnte. Eine solche Tat muß ihrer Natur nach auf die Täter zurückfallen. Jetzt wäre es Zeit, daß die Bischöfe sprächen!

Und wie faul ist die Motivierung! lm Ausland sei eine gräßliche Greuelpropaganda gegen Deutschland inszeniert worden, und zwar von den Juden. Als Repressalie soll den deutschen Juden der Boykott erklärt werden. Die Juden als Geiseln! Weshalb schreibt man dann das nicht auf die Schilder? Weshalb schreibt man "Blutsauger"? Das Primäre ist eben der Antisemitismus, und die „Greuelpropaganda" ist nur ein Vorwand. Jeder merkt das auch, zumal im Ausland. ln barbarischen Worten wird der Boykott als vorläufig, mal nur für heute durchzuführen, in der Zeitung erklärt; die Greuelpropaganda hätte den Höhepunkt überschritten (Wer kann das so schnell beurteilen?). Und wenn sie bis zum Mittwoch nachlasse, werde der Boykott eingestellt. Bis dahin sei eine Boykottpause. Wehe. wenn es dann wieder losgehen sollte!

2. April 1933


Trotzdem der Boykott nur gestern sein sollte, ist, wohl weil heute die Geschäfte auf sind, heute auch noch Bewachung der jüdischen Geschäfte durch die SA, allerdings ohne die Schilder. Aber auch alle vernünftigen Leute, mit denen ich zusammentreffe, schütteln den Kopf. Unbegreíflich! Dechant Werle soll im Hochamt und in der 11 Uhr-Messe eine sehr mutige Predigt gehalten haben über die Worte des Staffelgebets „Judica me, Deus. et discerne causam meam de gente non sancta, ab homine iniquo et doloso erue me" Es muß eine leidenschaftliche Anklage gegen die gewesen sein, die den Menschen das Recht rauben. Heute sind auch diejenigen mit ihm einverstanden gewesen, die ihn sonst schon mal scharf kritisieren. denn wenn man das Unrecht mit den eigenen Augen sieht, merkt vielleicht der eine oder andere doch, wo ein Volk hintreibt, in dem einseitige Schrankenlosigkeit einer Parteigruppe gestattet wird.


Qu.: Matthias Joseph Mehs,Tagebücher, November 1929 bis September 1946; Band 1, November 1929 bis Januar 1936; Herausgegeben von Günter Wein und Franziska Wein, Kliomedia, ISBN 978-3-89890-142-0