Novemberpogrom 1938 in Wittlich

Synagoge Kohle Forster 400

Seit dem 01. April 1933, dem Boykotttag,  waren die jüdischen Bürger von Wittlich zunehmend den Repressalien der Nationalsozialisten ausgeliefert. Viele sahen keine Zukunft mehr in der Stadt, in der sie sich wohlgefühlt hatten, die sie als Bürger mitgestalteten und zu deren Wohl sie u.a. auch als Geschäftsinhaber und Betriebe mit beitrugen. Sie mussten ihr Eigentum, weit unter Wert, meist an Nationalsozialisten nahestehende Geschäftsleute verkaufen. Ihre Zuflucht suchten sie im nahen Ausland (Luxemburg, Frankreich, England) und in den größeren Städten (Köln, Frankfurt...).  Die Zahl der noch in Wittlich lebenden Juden ist in dieser Zeit von fast 284 vor dem Boykott 1933 auf 86 gesunken. In der Nacht zum 09. auf den 10. November erlebten die Ausschreitungen gegen Juden einen weiteren unbeschreiblichen Höhepunkt in Deutschland. Auch Wittlich war davon betroffen.  Die SA-Truppen zogen vandalierend durch die Stadt. Rädelsführer war Walter Kölle, NSDAP Kreisleiter. Die Inneneinrichtung der Synagoge, die jüdische Schule in der Kirchstraße und die Wohnungen der noch wenigen jüdischen Bürger, die in der Stadt lebten wurden zerstört. Die männlichen Juden wurden gefangen genommen und ins Wittlicher Gefängnis überführt. Schutz für die Juden durch die Polizei oder Bürger gab es nicht. Bis heute lässt das Ereignis viele Fragen offen.

Bild: Lothar Forster, Kohlezeichnung der Synagoge

Das erste Amtsjahr in Wittlich

Kategorie: Novemberpogrom

Mit der Zusammenlegung der bisherigen Kreise Daun und Wittlich wird der schon seit 1931 als Kreisleiter von Daun tätige Walter Kölle zum 2.01.1938 als dienst ältester Parteigenosse von Gauleiter Gustav Simon mit der kommissarischen Leitung des neuen Gesamtkreises Wittlich-Daun beauftragt. Die Amtseinführung am 16.01.1938 findet im Beisein von zahlreichen Parteigenossen sowie Vertretern der Behörden und der Wehrmacht im Deutschen Haus in Wittlich statt.1 Bevor der mit stürmischem Beifall begrüßte Gauleiter selbst das Wort ergreift, spricht Kölle. Rückblickend auf seine Erfahrungen im Kreis Daun fordert er für sein neues Wirkungsfeld genau dieselbe und bedingungslose Gefolgschaft ein, um die neue schwere Aufgabe überhaupt bewältigen zu können. Bereits mit dieser Rede dürfte Kölle in Wittlich deutlich gemacht haben, dass mit ihm ein neuer, schärferer Stil Einzug halten wird.

Zwar geht Kölle auf die sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen ein – doch seine Hauptaufgabe sieht er darin, die gesamte Bevölkerung der beiden Eifelkreise in die weltanschauliche Ausrichtung des Nationalsozialismus zu bringen. Zudem müsse der Kampf um den deutschen Menschen von allen politischen Leitern solange weitergeführt werden, bis der letzte Bewohner ein überzeugter und begeisterter Anhänger des Führers und seiner Idee ist. Die Rede lässt erkennen, dass hier einer spricht, der offensichtlich durch die Propagandaschulung der NSDAP gegangen ist, wie auch weitere Reden von Kölle beweisen. Zum Schluss drückt er zwei Wünsche aus, die allen Versammelten gemeinsam sein müssen: Deutschland und dem Führer zu dienen und in Treue zum Führer unübertroffen zu bleiben.

Gauleiter Simon stellt Kölle als neuen Kameraden vor, der Entscheidendes beim Eifelsturm 1931 im Kreise Daun geleistet habe, um die Bewegung aufzubauen.2 Gauleiter Simon erinnert an die vielen Versammlungen der Partei in den Jahren 1925 bis 1931: Wir mußten unentwegt trommeln. Wie oft mußten wir in einem Ort sprechen, um auch nur einen Mann zu gewinnen… Wenn im Kreise Daun auch keine Schlägereien vorgekommen sind, dafür aber war der Widerstand des politisierenden Klerus, der damaligen Zentrumspartei und ihrer Paladine der SPD, der Christlichen Volkspartei und so weiter umso stärker. Für den Mann seines Vertrauens findet Simon viele lobende Worte: Pg. Kölle gelang es nun mustergültig, die Bewegung im Kreise Daun organisatorisch zu erfassen. Ganz auf der Ebene von Kölle propagiert Simon als künftige Hauptaufgabe, die Bevölkerung weltanschaulich im Sinne des nationalsozialistischen Glaubens zu erfassen und diese Weltanschauung überall zu festigen.

Schon wenige Tage später hat Kreisleiter Kölle erneut in Wittlich einen großen Auftritt. Der von ihm als Sieges-Tag angekündigte 30. Januar 1933 jährt sich zum fünften Mal und – glaubt man dem Bericht im Wittlicher Tageblatt3 – war fast ganz Wittlich am Abend auf dem Marktplatz angetreten, nachdem bereits am Morgen der Musikzug der SA-Standarte 27 ein großes Wecken inszeniert hatte. Zusammen mit NSDAP-Ortsgruppenleiter Dr. Hürter nimmt Kölle eine Parade der Parteigliederungen ab und beginnt eine Rede voller Pathos mit dem Feststellung: Es gibt für einen Nationalsozialisten keinen größeren Glückstag als die Feier des Tages unserer Bewegung am 30. Januar 1933… Wie ein Traum, wie ein Wunder kommt es uns vor, daß uns erst fünf Jahre von diesem Tage trennen. Selbstverständlich erinnert er an die harten Kämpfe vor 1933, lobt die Errungenschaften des „Vierjahresplanes“, das Zerreißen der Sklavenkette von Versailles, die Rückgewinnung des Saargebietes und die neue Stärke durch die Wehrmacht, die Deutschland zur Großmacht innerhalb der Völker erhoben hat. Nicht zuletzt die Einigung des deutschen Volkes4 sei entscheidendes Verdienst des „Führers“ und seiner Getreuen: Wir haben uns wieder besonnen zu einer großen deutschen Gemeinschaft und haben erkannt, daß wir alle Kinder eines großen Volkes sind und eine heilige Aufgabe gegenüber unserem heiligen deutschen Boden haben, den wir gemeinsam bearbeiten. Der Bericht zur Kundgebung endet mit dem Hinweis: Der Treue zu Führer, Volk und Vaterland gab Ortsgruppenleiter und Stadtbürgermeister Pg. Dr. Hürter in einem dreifachen Siegheil Ausdruck, in das die Volksgenossen begeistert einstimmten.

Bei der „Arisierung“ der Wittlicher Lebensmittelgroßhandlung Ermann-Bach Mitte Februar 1938 arbeitet Kölle eng mit der Koblenz-Trierer Gauleitung zusammen. Beim ersten „Betriebsappell“ überbringt Kreisamtsleiter Brand einen Glückwunsch des Kreisleiters Kölle. Die braunen Genossen betrachten es als endgültigen Erfolg, daß auch die letzten arischen Arbeitskräfte innerhalb unseres Kreises hierdurch vom jüdischen Unternehmer gelöst seien.5 Wie bereits zuvor in Daun liegt Kölle die Mitgliederwerbung für die NS-Volkswohlfahrt besonders am Herzen und eine von ihm gestartete Werbeaktion kann innerhalb von drei Wochen 1.100 neue Mitglieder verbuchen. Er selbst sieht darin ein wunderbares Bekenntnis der Bevölkerung des Kreises zur Volksgemeinschaft.6

Nach dem „Anschluss“ Österreichs am 12.03.1938 beginnt unter dem Motto „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ eine als Wahlkampf bezeichnete Propagandaoffensive für die Volksabstimmung am 10.04.1938. Bei einer Veranstaltung im Deutschen Haus nach dem inzwischen hinlänglich bekannten Ritual hält Kreisleiter Kölle eine martialische Rede zu den zahlreich erschienen Volksgenossen der Stadt Wittlich, in der er mit den Ewig-Gestrigen, die die Stunde nicht begreifen und in ihrer materialistischen Habsucht zu entheiligen suchen, hart ins Gericht geht: Es sind entweder Dummköpfe, die die Größe der Zeit nicht begriffen haben, oder es sind bewußte Landesverräter, die man denen gleichstellen kann, die den Anschlußgedanken in Österreich bewußt zu sabotieren versuchten. Quasi das spätere „Wahlergebnis“ vorwegnehmend – im Kreis Wittlich sollten es 99, 8 % Ja-Stimmen werden - beschließt Kölle seine Rede: Wir alle fühlen uns in tiefstem Herzen dem Führer zu Dank verpflichtet. Wir werden in hundertprozentiger Dankbarkeit zu unserem Führer Adolf Hitler stehen…. Kölles Vasall Dr. Hürter bleibt am Ende der Versammlung wieder einmal der Part, mit einem dreifachen Siegheil auf den Führer die Rede des Kreisleiters zu untermauern.7

Auch wenn gerade Kölle immer wieder die Einheit von Partei und „Volksgenossen“ als herausragende Errungenschaft der „Bewegung“ lobt und propagiert, so lässt ein umfangreicherer Artikel in der Lokalzeitung Ende August 1938 darauf schließen, dass es mit dieser vielbeschworenen Einheit nicht immer zum Besten bestellt ist. Der Artikel ist zwar namentlich nicht Kölle gezeichnet, doch ist kaum anzunehmen, dass er ohne Kölles Redaktion und Zustimmung publiziert werden konnte, und zwar unter der indirekt-appellativen Überschrift Mehr Achtung vor dem Hoheitsträger.8 Hier wird etwas eingefordert, was vermutlich nicht nur der Goldfasan9 Kölle vermisst, nämlich Anerkennung dafür, dass die politischen Leiter in der Mehrzahl ihren schweren Dienst ehrenamtlich verrichten: Es wäre sehr zu wünschen, daß sich allmählich jeder Volksgenosse dieser Tatsache einmal stärkstens bewußt würde. Dann dürfte sich auch bei ihm eine respektvollere Haltung gegenüber dem Politischen Leiter einstellen, der in unermüdlicher Kleinarbeit an der Front des politischen Lebens für den Führer und die Nation kämpft.

Während der „Sudetenkrise“ im September des Jahres veröffentlicht Kölle einen Aufruf, der ganz im Sinne der NS-Propaganda-Hetze ausfällt. Die Hilfe für die sudetendeutschen Volksgenossen wird selbstverständlich als Hilfe für unseren Führer deklariert. Die Spenden selbst sind bei der NS-Volkswohlfahrt abzuliefern. In dem Kölle-Aufruf, gerichtet an Deutsche Männer und Frauen, heißt es: Über die noch trennende Grenze flüchten in unaufhaltsamem Strom gequälte deutsche Brüder und Schwestern zu uns ins Reich. Von der Arbeit weg müssen die Männer sich retten, notdürftig gekleidet irren deutsche Frauen, Mütter und Kinder durch die Wälder und suchen das sichere Reich. Alles, Haus, Hab und Gut, die Heimat und die Lieben, müssen sie hinter sich lassen, nur weil sie Deutsche sind. Ihnen gilt unsere Hilfe. Wir reichen ihnen unsere Hände und öffnen ihnen unser Herz….10

Noch vor der Unterzeichnung des Abkommens zur Abtretung des sudetendeutschen Gebiets an das Reich ruft die Kreispropagandaleitung Daun-Wittlich für den Abend des 29.09.1938 zu einer Großkundgebung auf dem Wittlicher Viehmarktplatz auf, bei der Kreisleiter Kölle zum Thema „Führer befiehl, wir folgen!“ sprechen wird. Mehs, der unter spürbarer Anspannung diese Krisenzeit in seinem Tagebuch kommentiert hatte, schreibt zu der großen Volkskundgebung: Der Kundgebung wohnten nur Uniformierte bei, also gezwungene und natürlich blinde Fanatiker. Die Bevölkerung war nicht da. Kölle hält auch Chamberlain für einen Gauner. Grotesk die ganze Kundgebung, da man schon weiß, in München wird weiter verhandelt. Grotesk der Tag: Si vis pacem, para bellum.11

Die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht am 16.03.1935 hatte Kölle schon mehrfach als großes politisches Ereignis bejubelt. Bei Kölles Amtseinführung im Januar 1938 war Gauleiter Simon ausführlich auf die Einrichtung von deutschen Garnisonen im Westen eingegangen, die er als Wagnis, aber auch als besondere politische Leistung dargestellt hatte. Als noch bedeutsamer als das Bauen von Kasernen hatte der Gauleiter damals hervorgehoben, das deutsche Volk und vor allem die deutsche Jugend wieder einmal wehrwillig gemacht zu haben.12 Zu diesem Zeitpunkt verfügte Wittlich bereits über die von Bürgermeister Dr. Hürter erwirkte Zusage für den Bau einer Infanteriekaserne, der eine Panzerabwehrkaserne folgen sollte, deren Bau am 15.01.1938 begonnen worden war. Beim Richtfest am 31.08.1938 hatte Kreisleiter Kölle wieder einen groß inszenierten Auftritt und es versteht sich von selbst, dass er noch vor dem NSDAP-Ortsgruppenleiter und Wittlicher Bürgermeister Dr. Hürter das Wort ergreift. Er wendet sich direkt an die Arbeitskameraden, die diese Trutzburg in nur wenigen Monaten errichtet haben, und erklärt allen, die es hören wollen, warum die Gebäude so schnell im Rohbau fertig gestellt werden konnten: Keine Streiks, keine Aussperrungen, wie wir sie einmal in der Vergangenheit kannten und heute noch im Auslande an der Tagesordnung sind, haben den Aufbau gehemmt. Die Gebäude selbst nennt Kölle ein weiteres Glied in der Kette der Bollwerke, die wir an der Grenze des Reiches errichten, um den deutschesten aller Ströme, den herrlichen Rhein, vor fremden Zugriffen zu schützen. In seiner anschließenden knappen Rede steht Dr. Hürter hinsichtlich seiner NS-Propaganda-Fähigkeit keineswegs hinter Kölle zurück.13

Bei der Amtseinführung dreier hauptamtlicher Kreisamtsleiter am 23.10.1938 zieht Kölle erneute alle Propagandaregister. Mit dieser Tagung trete ein Wendepunkt in der aktiven Arbeit der Partei ein und Kölle fordert von jedem Parteigenossen, ein wirklicher Propagandist zu sein, der die noch Abseitstehenden für die Partei gewinnen müsse. Wer sich dazu nicht in der Lage sieht, soll wieder aus der Partei ausscheiden, er habe nicht begriffen, daß mit der Verwirklichung der nationalsozialistischen Weltanschauung die Ewigkeit des deutschen Volkes gesichert wird.14

Bereits am Nachmittag von Kölles größter antisemitischer Schandtat, dem Pogrom vom 10.11.1938 gegen die Wittlicher Juden, war ein erster Vortrupp deutscher Soldaten von Wuppertal kommend durch Wittlich gezogen und hatte Einzug in den Kasernen gehalten. Die offizielle Truppenbegrüßung am Sonntag, dem 27.11.1938, vollziehen Kreisleiter Kölle und Dr. Hürter wieder gemeinsam, noch nicht ahnend, dass sie sich einmal bei der Ahndung der Pogromverbrechen vom selben Tag später gegenseitig belasten würden. Kölle nutzt erneut die Gelegenheit, vor einer großen Menge Wittlicher Bürger Wehrpflicht- und Partei-Propaganda zu betreiben. Seine Worte könnten denen, die nicht einmal ein Jahr später ausrücken mussten, bald ziemlich zynisch erschienen sein: Die Wehrmacht, die der Führer wieder aufgebaut hat, aber soll kein Instrument des Krieges sein, denn der Führer hat nur allzu oft als der oberste Befehlshaber dieser Wehrmacht der Welt Friedensangebote unterbreitet. Auch dem letzten deutschen Landser, der damals Kölles Rede möglicherweise noch bejubelt hatte, dürfte spätestens im Laufe des Weltkrieges klar geworden sein, wie ideologisch-verlogen Kölles Rede vor allem auch im Schlussteil war: Alle Schlacken der Vergangenheit, die der alten Armee anhafteten, sind heute beseitigt und in der neuen deutschen Wehrmacht ist heute wie überall ein nationalsozialistischer Geist eingezogen. In der Wehrmacht kennt man keine Klassenunterschiede mehr. Kastengeist und Standesdünkel sind auch hier überwunden. Der Arbeiter der Faust marschiert neben dem Arbeiter der Stirne, Protestanten neben Katholiken, genau wie in den Gliederungen der Partei. Auch in der Wehrmacht ist heute einzig und allein die Leistung ausschlaggebend. Schulter an Schulter marschiert heute so das ganze deutsche Volk.15 Ob sich die an diesem Tag dankbar jubelnden Wittlicher nach Ende des Krieges, als auch ihnen die Schreckensbilanz für ihre arg zerbombte Heimatstadt vor Augen stand, noch an Kölles Rede erinnern wollten? Kaum anzunehmen.16 Der erste Wittlicher Nachkriegsbürgermeister Matthias Joseph Mehs indessen formulierte im Februar 1946 eine bittere Sicht, deren realer Gehalt vermutlich kaum zu bestreiten ist: Mächtig stolz war er (Anm.: Bürgermeister Dr. Hürter) darüber, daß er Wittlich zu einer Garnisonsstadt gemacht hat, was mittelbar und unmittelbar schuld ist, daß unser friedliches Städtchen bombardiert wurde, daß ferner zehntausend Polen und Russen hier sich sammelten und die Gegend unsicher machten und daß wir jetzt eine starke Besatzung hier liegen haben.17

Anfang Oktober 1938 hatte Kölle in Gerolstein unter der Parole „Ein Volk hilft sich selbst“ das „Winterhilfswerk“ eröffnet. Am Tag der „Nationalen Solidarität“, dem 3. Dezember, war den noch in Deutschland verbliebenen Juden das Betreten von Straßen und Plätzen in der Zeit von 12 bis 20 Uhr unter Strafandrohung verboten, weil Juden an der Solidarität des deutschen Volkes keinen Anteil haben – so die lapidare Begründung im Aufruf des Chefs der Sicherheitspolizei, die Kölles Kreispropagandaabteilung auch in Wittlich verbreitete.18 Gesammelt wird auch an diesem Tag und nicht nur Matthias Joseph Mehs wird gewusst haben, wie es um die immer wieder propagierte Freiwilligkeit des Spendens in Wahrheit bestellt war, wie sein Tagebucheintrag zum „Fall Gassen“ beweist: Wir haben also hier den Fall (der mir auch schon passiert ist), daß irgendwelche Stellen, die gar nichts beurteilen können, was einer überhaupt spendet oder für das Winterhilfswerk tut, einfach ihre Meinung abgeben und Verdikte über ihre Volksgenossen aussprechen. Der anständige Mensch ist ihnen glatt ausgeliefert, weil von oben nichts dagegen getan wird.19

Kreisleiter Kölle pflegte ganz offenkundig gute Kontakte zu einem Verein, der in seinem Wirkungsgebiet seit Jahrzehnten hohes Ansehen in der Bevölkerung genoss, dem 1888 in Bad Bertrich von Adolf Dronke gegründeten „Eifelverein“. Als am 9.10.1938 auf der Manderscheider Niederburg eine Ehrentafel für den langjährigen Vorsitzenden Karl Kaufmann enthüllt wird, ist auch Kölle dabei und das Vereinsorgan berichtet über diesen Auftritt in einem bebilderten Artikel: Nach einem frohen und flott vorgetragenen Wanderlied dankte der uns als Freund des Eifelvereins gut bekannte Kreisleiter Kölle dem Ehrenvorsitzenden Geheimrat Kaufmann, der in 34 Jahren vorbildliche nationalsozialistische Aufbauarbeit für die Eifel geleistet habe. Die Partei erkenne den Wert der im Eifelverein geleisteten Mitarbeit an und werde immer hinter dem Eifelverein stehen.20 Kölle hatte bereits im Januar 1938 ein Rundschreiben an alle NSDAP-Ortsgruppen seines Kreises geschickt, in dem er überschwänglich die Arbeit des Eifelvereins lobt und in dem es am Ende heißt: Jeder Hoheitsträger der Bewegung wird es sich zur Ehre machen, die Arbeit des Eifelvereins zu fördern, wo er nur kann. Bis zum 28. Februar meldet jeder Hoheitsträger im Monatsbericht gesondert seine Erfolge, Fehlanzeige wird nicht entgegengenommen. Ähnliche Schreiben hatten auch andere Kreisleiter verfasst. Betrachtet man jedoch das große Einzugsgebiet, aus dem der Verein seine Mitglieder rekrutierte, erscheinen die Appelle nicht sonderlich erfolgreich gewesen zu sein.21

Damit wären zwar die wichtigsten, aber bei weitem nicht alle Auftritte des Kreisleiters Kölle in seinem ersten Amtsjahr für den Bereich Wittlich erwähnt. Er hatte deutliche Präsenz in Wittlich gezeigt und mit seinen schneidigen Propagandareden seine Parteigenossen – wie bei seiner Amtseinführung versprochen – sicher nicht enttäuscht. Dies gilt auch, wenn man die propagandistische Ausrichtung der parteigelenkten Presse in Rechnung stellt. Noch erschreckender als der damalige Ton und Inhalt seiner Reden muss aber erachtet werden, dass sich vierzehn Jahre später – trotz Millionen von Toten und unbeschreiblicher Zerstörungen in Deutschland und den von Hitler-Deutschland mit Krieg überzogenen Ländern – an der fanatischen ideologischen Weltanschauung des ehemaligen Kreisleiters so gut wie nichts verändert hatte, wie Kölles Rückblick vom Frühjahr 1952 beweist. Dass er sich bei seiner „Erfolgsbilanz“ noch auf die Zustimmung zahlreicher ehemaliger „Volksgenossen“ berufen kann, ist die andere Seite der Medaille und zeigt, wie wenig kritisch die NS-Diktatur zu dieser Zeit reflektiert war.


1
Bericht im Wittlicher Tageblatt vom 17.01.1938, Nr. 13 (Zitate aus den Reden ebd.).

2
Klaus PETRY hat überzeugend dargelegt, dass auch die Wittlicher NSDAP-Ortsgruppe frühestens im Januar 1931 entstanden ist, vgl. Ders., Die Geschichte der Stadt vom beginnenden 19. Jahrhundert bis zur Zeitenwende am 10. März 1945, 3. Band: Wittlich unter dem Hakenkreuz. Hrsg. von der Stadtverwaltung Wittlich. Wittlich 2009, S. 16f. (zit.: PETRY 2009). Die erste öffentliche NS-Kundgebung hatte in Wittlich am 12.09.1930 stattgefunden. (ebd., S. 17).

3
Vom 31.01.1938, Nr. 25 (alle Zitate aus diesem Artikel).

4
Mehs notiert hierzu in seinem Tagebuch (siehe Biografische Notizen Anmerk 3) am 31.08.1938: Und die Einigkeit? Ich halte die innere Zerrissenheit des Volkes für größer als 1918, weil es nicht frei aussprechen kann, was es denkt. Die hundertprozentigen Wahlen geben nicht die wahre Gesinnung kund. Der Geist läßt sich auf Dauer nicht uniformieren. (ebd., S. 98). Aufschlussreich sind die Berichte des SD, dem Meinungsforschungsinstitut der Diktatur (Boberach), die zeigen können, dass die NS-Propaganda im Volk selbst durchaus durchschaut wurde und dass es um die Einigkeit der „Volksgemeinschaft“ weniger gut bestellt war, als von der NS-Führung propagiert wurde - vor allem, als die „guten Jahre der Diktatur“ mit Beginn des Krieges zu Ende gingen. Vgl. Meldungen aus dem Reich. Auswahl aus den geheimen Lageberichten des Sicherheitsdienstes der SS 1939-1944. Hrsg. von Heinz BOBERACH. München 1968.

5
Zu dem traditionsreichen jüdischen Betrieb, dessen Vermögen in den Jahren 1943/44 vom NS-Staat eingezogen wurde, vgl. Maria WEIN-MEHS, Juden in Wittlich 1808-1942. Wittlich 1996, S. 511-519. (zit.: WEIN-MEHS 1996). Bei den „Arisierungen“ wurde der Kreisleiter grundsätzlich einbezogen; er musste seine Genehmigung für den jeweiligen Verkauf jüdischen Besitzes an „arische“ Volksgenossen erteilen. Nach dem Novemberpogrom war der „Verordnung vom 3.12.1938 über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ zu verfahren. Zahlreiche Vorgänge dieser Art sind für Wittlich dokumentiert in: LHA Ko Best. 516, Nr. 6463.

6
Wittlicher Tageblatt vom 1.03.1938.

7
Berichterstattung im Wittlicher Tageblatt vom 25.03.1938, Nr. 71. Vgl. hierzu die wenig später notierte Anmerkung von MEHS (wie Anm. 34). Im Zeitraum vom April bis Ende August 1938 hat Mehs kein Tagebuch geführt.

8
Wittlicher Tageblatt vom 31.08.1938, Nr. 202.

9
Wegen ihres prunkvollen Auftretens in Uniform mit häufig goldenen Parteiabzeichen wurden Kreisleiter im Volksmund spöttisch als „Goldfasane“ bezeichnet. Vgl. hierzu DORFEY 2003, S. 301 mit Anm. 7 (wie Anm. 18).

10 
Wittlicher Tageblatt vom 23.09.1938, Nr. 222.

11 
MEHS TB II 2011, S. 107 (wie Anm. 16). Natürlich schätzt Mehs Chamberlain ganz anders ein als Kölle: Der Friede hat den Krieg besiegt. Alle Welt wird auch wissen, daß es lediglich der Initiative Chamberlains zu verdanken ist, eine der größten Friedenstaten aller Zeiten. Er hatte den Mut, den Stier bei den Hörnern zu packen. (ebd.). Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen schreibt Mehs am 8.10.1938: Aber Hitler ist kein Geist der Ruhe. (ebd., S. 109) und zwei Tage konkretisiert er: Der Nationalsozialismus kann keine Ruhe gebrauchen, weil dann das Denken anfängt, und wer denkt, ist Staatsfeind. ‚Goethes Faust gehört nicht in den Tornister eines Soldaten’, hat Ludendorff einmal gesagt. (ebd., S. 110)

12 
Wittlicher Tageblatt vom 17.01.1938, Nr. 13.

13 
Redezitate nach Wittlicher Tageblatt vom 1.09.1938, Nr. 203. Ausführlich zu den Wittlicher Kasernenbauten mit Abbildungen: PETRY 2009, S. 158-167 (wie Anm. 32).

14 
Bericht im Wittlicher Tageblatt vom 24.10.1938, Nr. 248.

15 
Bericht im Wittlicher Tageblatt vom 28.11.1938, Nr. 277, vgl. auch PETRY 2009, S. 165f. (wie Anm. 32).

16 
Vgl. dazu die Angaben bei SCHAAF 2000, S. 200, Abschnitt „Bilanz des Chaos“, wie Anm. 29).

17 
Brief an den früheren Wittlicher Bürgermeister Neuenhofer (Familienarchiv Mehs, Trier), der von der NSDAP aus dem Amt gejagt worden war und Mehs um eine Stellungnahme zu dem früheren NSDAP-Ortsbürgermeister Dr. Hürter gebeten hatte.

18 
Wittlicher Tageblatt vom 2.12.1938.

19 
MEHS TB II 2011, S. 125 f. (3.12.1938, wie Anm. 16). Mehs spielt auf einen bewussten Täuschungsversuch gegenüber dem gut situierten Ferdinand Gassen durch einen Spendensammler der Partei an.

20
Auf der Homepage des Eifelvereins sucht man vergebens nach einer Darstellung der Geschichte des Vereins. Der Beitrag „Der Eifelverein 1933 bis 1945“ in der Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Eifelvereins (1888-1998, S. 435-456) klammert nicht nur den hier erwähnten Auftritt von Kölle (Bericht in: Die Eifel, Nr. 10/11, S. 125f) und andere eng mit NS-Funktionsträgern verbundene Veranstaltungen aus, sondern auch die bereits spätestens Mitte 1933 erfolgte (Selbst)-Gleichschaltung des Vereins. Stattdessen dominiert die Fiktion eines unpolitischen Wandervereins. Ein Blick in die Vereinszeitschrift mit den zahlreich vorhandenen Anzeigen (zum WHW, zur NSV etc.), diversen Berichten und dem Abdruck von NS-Parolen („Ein Volk – Ein Reich – Ein Führer“) lässt ein anderes Bild entstehen.

21 
Im Jahr 1933 hatte der Verein rund 12.000 Mitglieder, Ende 1938 waren es 14.800 (vgl. wie Anm. 50, S. 448 und S. 453. Kölle-Aufruf in: Die Eifel, Nr. 1, 1938.


 

Autor: Franz-Josef Schmit

Thema Zeitzeugen:  Hans Wax

Literatur

Franz-Josef Schmit,  Novemberpogrom 1938 in Wittlich, Trier Verlag, 2013