Novemberpogrom 1938 in Wittlich

Synagoge Kohle Forster 400

Seit dem 01. April 1933, dem Boykotttag,  waren die jüdischen Bürger von Wittlich zunehmend den Repressalien der Nationalsozialisten ausgeliefert. Viele sahen keine Zukunft mehr in der Stadt, in der sie sich wohlgefühlt hatten, die sie als Bürger mitgestalteten und zu deren Wohl sie u.a. auch als Geschäftsinhaber und Betriebe mit beitrugen. Sie mussten ihr Eigentum, weit unter Wert, meist an Nationalsozialisten nahestehende Geschäftsleute verkaufen. Ihre Zuflucht suchten sie im nahen Ausland (Luxemburg, Frankreich, England) und in den größeren Städten (Köln, Frankfurt...).  Die Zahl der noch in Wittlich lebenden Juden ist in dieser Zeit von fast 284 vor dem Boykott 1933 auf 86 gesunken. In der Nacht zum 09. auf den 10. November erlebten die Ausschreitungen gegen Juden einen weiteren unbeschreiblichen Höhepunkt in Deutschland. Auch Wittlich war davon betroffen.  Die SA-Truppen zogen vandalierend durch die Stadt. Rädelsführer war Walter Kölle, NSDAP Kreisleiter. Die Inneneinrichtung der Synagoge, die jüdische Schule in der Kirchstraße und die Wohnungen der noch wenigen jüdischen Bürger, die in der Stadt lebten wurden zerstört. Die männlichen Juden wurden gefangen genommen und ins Wittlicher Gefängnis überführt. Schutz für die Juden durch die Polizei oder Bürger gab es nicht. Bis heute lässt das Ereignis viele Fragen offen.

Bild: Lothar Forster, Kohlezeichnung der Synagoge

Die Koblenzer Spruchkammer 1952

Kategorie: Novemberpogrom

Wesentlich knapper, aber im Kern gleich – wenn auch auf Grund der Situation, etwas „weichgespült“ – fallen die Statements des früheren Kreisleiters im Spruchkammerverfahren vom August 1952 aus, also zu einem Zeitpunkt, als er sich noch nicht vor dem Bonner Landgericht verantwortet hatte.1 Als der Koblenzer Kammervorsitzende wissen will, wie Kölle über die nationalsozialistischen Gewaltherrschaft denke, erklärt dieser: Ich stehe auf dem Standpunkt, wir stehen noch so nahe an den Dingen, dass es eigentlich vermessen klingen würde, dass man sich heute bereits ein Urteil darüber erlauben könnte. Das kann man diplomatisch nennen, auch wenn es in Anbetracht seiner Niederschrift schlichtweg verlogen ist, auch wenn Kölle einräumt: Für mich ist es selbstverständlich ebenso tragisch, dass eine Bewegung wie der Nationalsozialismus so viel Unheil nach sich gezogen hat. Diese Aussage bezieht sich jedoch nicht auf die unmittelbaren Folgen für die Opfer der NS-Gewaltherrschaft, sondern steht im Zusammenhang mit Kölles Einschätzung zum verlorenen Krieg, womit für ihn aber noch lange kein Beweis der richtigen oder unrichtigen Weltanschauung geliefert ist. Kölle hält auch hier in bekannter Manier Linie, wenn er erklärt: Für den Ausgang eines Krieges ist keineswegs ausschlaggebend, dass derjenige Recht hat, der Sieger ist. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die ihre politische Gesinnung wie ein schmutziges Hemd wechseln.

In seiner Niederschrift hatte Kölle im Zusammenhang mit der Arbeit seiner „Kreisfrauenschaftsleiterin“ auch das Problem der Inzucht angesprochen und die Kosten des Kreises Daun beklagt, die die Bevölkerung jährlich für seine in Heilanstalten untergebrachten Idioten“ zu zahlen hat. Vor der Spruchkammer gibt er offen zu, von der Existenz von Konzentrationslagern gewusst zu haben – übrigens wie jeder andere auch – und ergänzt: Ich stehe nach wie vor auf dem Standpunkt der Euthanasie. Die Frage der Euthanasie besteht in der ganzen Welt.2 Während die erste Feststellung Kölles als weiterer Beleg für seine ungebrochene nationalsozialistische Weltanschauung zu werten ist, muss in der nachfolgenden Anmerkung vor allem ein deutlicher Hinweis auf Kölles unterbelichtete Bildung gesehen werden, auch wenn seine anhaltende ideologische Verblendung davon kaum zu trennen ist.

Auf die Notwendig einer historischen Überprüfung sämtlicher Einzelaspekte aus der Kölle-Niederschrift vom Frühjahr 1952 wurde bereits hingewiesen. Da dies den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde, sei lediglich angemerkt, dass der historisch halbwegs mit der Geschichte des „Dritten Reiches“ vertraute Leser (auch der gesamten Niederschrift) unschwer wird feststellen können, w a s Kölle in seiner Darstellung alles ausgeklammert hat. Dazu gehören – um nur zwei frühe Beispiele zu nennen – das „Heimtücke-Gesetz“, durch das dem Denunziantentum eine Scheinlegalität verliehen wurde, und das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, das so genannte „Ermächtigungsgesetz“, mit dem am 24.03.1933 dem Rechts- und Verfassungsstaat ein Ende bereitet worden war. Nach Auflösung aller Parteien, abgesehen von der NSDAP, in Folge des Reichsgesetzes vom 14.07.1933 beherrschten nur noch NSDAP-Kandidaten die politischen Gremien.

Darüber hinaus ist hinlänglich bekannt, wie die Nationalsozialisten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik agierten. Bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit griffen die Nationalsozialisten auf Methoden zurück, wie sie nur in einem höchst undemokratischen System möglich sind (z. B.: Gleichschaltung- bzw. Ausschaltung von Berufsverbänden und Gewerkschaften, Kampf gegen „Doppelverdiener“, Hand- statt Maschinenarbeit, Arbeitsdienstpflicht ab Juni 1935, enorme Investitionen in die Rüstung etc.). Inflation und eine enorme Staatsverschuldung wurden in Kauf genommen, weil man hoffte, mit künftiger Kriegsbeute alles begleichen zu können. Die Konsequenzen der Wirtschaftspolitik seit 1936 waren absehbar: Bankrott oder Krieg.3 Kölles „Erfolgsbilanz“ hinsichtlich der Arbeit verschiedener NS-Verbände (z.B. DAF, NSV etc.) und der Parteiaktivisten im Bereich des Kreises Wittlich seit Januar 1938 fällt zudem vor dem Hintergrund verschiedener lokalhistorischer Untersuchungen erheblich anders aus.4 Auf den doppelgesichtigen Charakter und das widersprüchliche Erscheinungsbild der NS-Zeit hat vor allem Peter Reichel mit seiner grundlegenden Studie – publiziert unter dem programmatischen Titel „Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus“ – aufmerksam gemacht und die als höchst ergiebige Hintergrundstudie auch zu Kölles Niederschrift gelesen werden kann.5 Der Historiker ist sich der Gefahr bewusst, die mit einer solchen Darstellung der „faszinierenden“ Seiten des Nationalsozialismus verbunden sein kann und konkretisiert daher seinen Untersuchungsansatz: Über die geschönte Seite der Wirklichkeit dieses zutiefst verbrecherischen Systems zu schreiben, darf und muß nicht dazu führen, die Akteure nachträglich zu rehabilitieren, die Opfer zu verhöhnen und die Millionen Mitläufer und Angepaßten von jeder (ohnehin nur individuell zurechenbaren) Schuld freizusprechen… Die Thematisierung des ‚schönen Scheins‘ impliziert weder die Negierung der Gewalt noch die Relativierung der NS-Verbrechen. Dieser Ansatz zielt allein auf die Analyse der Täuschung der Massen und ihrer Selbsttäuschung.6

Wie aus einem der Niederschrift vorangestellten Inhaltsverzeichnis hervorgeht, hatte Kölle noch zwei weitere Kapitel zum ursprünglichen Textkorpus zumindest geplant, aber offenbar nicht mehr ausgeführt: Die Judenfrage und der 9. November 1938 und Die heutige deutsche Presse und sonstige Publikationsorgane.7 Dass es für Kölle grundsätzlich eine „Judenfrage“ gab, muss natürlich nicht überraschen. Ebenso wenig, dass er mit der demokratischen deutschen Nachkriegspresse keinen Frieden gemacht hat. Aus seinen in der Lokalpresse dokumentierten Reden im Jahr 1938 lässt sich kaum begründen, was die Koblenzer Spruchkammer im August 1952 glaubt feststellen zu können, dass Kölle sich als ein überzeugter Anhänger der nationalsozialistischen Rassenlehre erwiesen habe.8 Aber hier ist aufgrund der lückenhaften Überlieferung Vorsicht geboten. Die ausführlichste Stellungnahme zur Verfolgung der Juden stammt aus einem Dokument vom November 1953. Kölle bestreitet nicht, von der Judenverfolgung gewusst zu haben. Zur „Judenaktion“ im November 1938 gibt er zu Protokoll9: Ich betone aber nochmals, dass in meinem Kreis keine solchen Ausschreitungen vorgekommen sind, die irgendwie mit den Ereignissen in größeren Städten verglichen werden können. Damit bedient Kölle ein hinlänglich bekanntes Klischee von der „unschuldigen Provinz“, das nicht nur für seinen Wirkungskreis mit Blick auf die Ereignisse vom 9./10. November 1938 weit von den realen Ereignissen entfernt ist. Weil er während des Krieges nie im Osten eingesetzt war, will er weder von der sogenannten Endlösung der Judenfrage noch der physischen Vernichtung der Juden etwas erfahren haben. Als ich 1944 wieder als Kreisleiter eingesetzt war, waren die Judenaktionen längst abgeschlossen. Über diese Dinge wurde damals nicht wieder gesprochen, weil dringende Fragen des Kriegseinsatzes im Vordergrund standen. Bemerken möchte ich, daß ich mit italienischen Fliegeroffizieren beim Einsatz in Italien zusammen war, die selbst Juden waren. Daraus dürfte hervor gehen, dass ich selbst nicht etwa fanatisch antisemitisch eingestellt war. Diese letzte Bemerkung tauchte nach 1945 ziemlich häufig auch bei anderen politischen Leitern auf, wenn es darum ging, den eigenen rassenideologischen Fanatismus klein zu reden.



Nachfolgende Zitate nach KÖLLE-SPRUCHKAMMER 1952 (wie Anm. 15).


Zitate nach ebd.


Wolfgang BENZ, Geschichte des Dritten Reiches. München 2000, S. 105f. Zu diesem Themenkomplex, vgl. die entsprechenden Kapitel (Wehrmacht, Wirtschaft, Sozialpolitik etc.) im Handbuch-Teil der Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Hrsg. von Wolfgang Benz, Hermann Graml und Hermann Weiß, München 1998.


Hier ist in erster Linie auf die akribische Aufarbeitung von Erwin Schaaf zu verweisen, der anhand von reichlichem Zahlenmaterial einen kritischen Abgleich zwischen propagandistischem Anspruch und realer Umsetzung der NS-Politik an der Mosel vorgenommen hat (vgl. SCHAAF 2000, S. 142-171, wie Anm. 29). Auch wenn Schaaf den Kreisleiter Kölle nur beiläufig erwähnt, gilt es festzuhalten, dass diesem als Politischem Leiter im Verbund mit der Gauleitung die Gesamtverantwortung zugeschrieben werden muss, und zwar auch für die Bereiche, die Kölle in seiner NIEDERSCHRIFT bewusst außen vorgelassen hatte: Meinungsterror, Kampf gegen die Kirchen und ihre Verbände, Willkür gegen Regime-Gegner sowie Ausgrenzung und Verfolgung von Juden und Behinderten (vgl. dazu SCHAAF 2000, S. 175-190). Weitere Beiträge in „Zeitenwende“ (wie Anm. 29). Schaaf verkennt nicht, dass in bestimmten Teilbereichen (z.B. Belebung des Tourismus durch die KdF, Beseitigung der Winzernot) Fortschritte erzielt wurden, wenngleich auch diese Aktionen getragen waren von völkisch-nationalen Ideen und protektionistisch ausgerichtet waren (vgl. ebd., S. 163, zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit auf Grund verschiedener Projekte der Kriegsvorbereitung in der Region ab Sommer 1938, vgl., ebd. S. 155).


Ders., München 1991, S. 8.


Ebd. Besonders aufschlussreich sind etwa die Kapitel bei REICHEL, die direkt auf von Kölle im Rahmen seiner „Erfolgsbilanz“ angesprochene Aspekte eingehen: 4. Kapitel („Volksgemeinschaft“); 7. Kapitel („Arbeit und Freizeit“) und 8. Kapitel („Bauen und Wohnen“).


Warum Kölle diese beiden Kapitel nicht (mehr) geschrieben hat, ist nicht eindeutig zu erklären. Möglicherweise waren es zeitliche Gründe, aber auch aus taktischen Gründen kann er davon Abstand genommen haben.

8
KÖLLE-SPRUCHKAMMER 1952 (wie Anm. 15). Selbst die Rede Kölles am Abend des 9. Novembers 1938 im Rahmen der „Gedenkfeier für die Gefallenen der Bewegung“ auf dem Wittlicher Ehrenfriedhof (abgedruckt im Wittlicher Tageblatt vom 10.11.1938) enthält keine extrem antisemitischen Passagen.


Die Zitate stammen aus einer Stellungnahme, die Kölle am 13.11.1953 vor der Spruchkammer in Bielefeld abgegeben hat. Warum Kölle überhaupt noch nach seiner Verurteilung vom 8.06.1953 durch das Landgericht Bonn vor der Bielefelder Spruchkammer antreten musste, erscheint unlogisch. Das Verfahren wurde folglich auch im Dezember 1953 eingestellt (vgl. Bundesarchiv Koblenz Bestand Z 42 IV, Nr. 6529).


 

Autor: Franz-Josef Schmit

Thema Zeitzeugen:  Hans Wax

Literatur

Franz-Josef Schmit,  Novemberpogrom 1938 in Wittlich, Trier Verlag, 2013