Jüdisches Leben in Wittlich

Ausstellung plakat neu 1200

Einführung


Liebe Leserin, lieber Leser,

ich möchte Sie zunächst zu einer kleinen Zeitreise einladen, die teilweise auch persönlich gefärbt ist. Daran anschließend möchte ich Ihnen in groben Zügen die neue Ausstellung vorstellen.

1922

Ich beginne mit der Zeit vor 100 Jahren, also 1922. In dieser Zeit war es in Wittlich völlig selbstverständlich, dass man zum Textilgeschäft Frank ging, um sich einen neuen Wintermantel anzuschaffen. Werfen Sie einen Blick in die Vitrine im ersten Obergeschoss, dann wissen Sie, wovon ich spreche. Kleiderbügel sind in vielen Schränken versierte Überlebenskünstler und können dort über viele Jahrzehnte verharren.

1921 hatte die Chemische Fabrik auf dem Kalkturm ihre neue Produktionsstätte errichtet und lief auf vollen Touren. Die Brüder Alfred und Otto Ermann hatten damit die erfolgreiche unternehmerische Tätigkeit der Familie Ermann-Bach in Wittlich um einen neuen Zweig erweitert. Ihre Geschäftsbeziehungen gingen weit über Wittlich hinaus.

Der Lehrer an der jüdischen Schule, David Hartmann, hatte gerade seine Tätigkeit dort begonnen und war auch der Kantor hier in der Synagoge. Er war also zuständig für die Gottesdienste, für die religiöse Bildung der Kinder und auch für Trauungen oder Beerdigungen. Bei den Gottesdiensten wurde er unterstützt vom Synagogenchor unter der Leitung von Daniel Marcks. Die von ihm eingeübten Gesänge, etwa von Louis Lewandowsky, zeugten von der reformorientierten, liberalen Einstellung der hiesigen Gemeinde. Vor hundert Jahren war das die Musik, die in diesem Raum hier zur Aufführung kam.

1942

Zwanzig Jahre später, vor achtzig Jahren, war von all dem nichts mehr übrig. Die Synagoge war am 10. November 1938 im Innenraum verwüstet worden. Hier lebten jetzt französische Kriegsgefangene. Es herrschte seit drei Jahren Krieg in Deutschland. Die Nationalsozialisten saßen fest im Sattel. Bürgermeister in Wittlich war Dr. Karl Hürter, Kreisleiter Walther Kölle.
Es gab keine Juden mehr in Wittlich. Ein Großteil hatte Deutschland noch rechtzeitig verlassen können. Manche lebten bereits in Palästina, in den USA oder in anderen Ländern. Emil Frank und seine Schwester Clementine waren nach einer langen Odyssee im September 1942 in den USA angekommen.

In Polen, im Getto Litzmannstadt, starb vor fast genau 80 Jahren, am 12. November 1942, Anita Bermann, 18 Jahre alt. Ihre Mutter Berta war wahrscheinlich schon in die Mordstätte nach Kulmhof gebracht und ermordet worden. Ihr Vater Mirtil lebte noch bis Anfang 1944. Ihr Bruder Siegbert wurde bei der Räumung des Gettos im Sommer 1944 ebenfalls in Kulmhof ermordet. Nur ihr Bruder David Arnold überlebte.
Dies ist nur die Geschichte einer Familie; viele mehr haben die Grauen der Nazi-Zeit nicht überlebt. Auf dem Gedenkstein und im Gedenkbuch gleich im Foyer wird ihr Andenken bewahrt.

1972

In den Anfang der 1970er Jahre fällt meine erste intensivere Erfahrung mit der Stadt Wittlich. Die immer noch als Ruine dastehende Synagoge war durch einen Bauzaun abgegrenzt und weckte mein Interesse daran, was wohl in dieser Stadt passiert war. Damals gab es einen Vortrag des jüdischen Theologen Pinchas Lapide im Kolpinghaus. An das Thema des Vortrags erinnere ich mich nicht, wohl aber an die etwas merkwürdige Stimmung im Saal. Irgendwie hatte ich das Gefühl, das es den anwesenden Wittlichern nicht so angenehm war, über Juden und Judentum zu sprechen. Man merkte, dass da einiges Wissen vorhanden war, was aber nicht ans Tageslicht kommen sollte.
Aber es gab auch Kontakte zu den jetzt verstreut in der Welt lebenden ehemaligen Nachbarn. Im April 1971 schrieb Charles (früher: Karl) Ermann, der sehr spät emigriert war, aus den USA an Anton Marmann:

„Jedenfalls freue ich mich, dass jemand aus eurer Familie jetzt in unserem früheren Haus wohnt, hat doch Eure liebe Mutter so oft in unserer Küche gesessen und sich mit unserer lieben Mutter unterhalten.“

1992

Zwanzig Jahre später war vieles passiert. Die Synagoge war als Kultur- und Tagungsstätte renoviert und ein Schmuckstück geworden. Man hatte Mitte der 1980er Jahre, wenn auch zögerlich, begonnen, sich mit der Geschichte der ehemaligen jüdischen Mitbürger zu beschäftigen. Die Hörfunkbeiträge der Journalistin Ursula Junk, einer mit dem Titel „Eine Kleinstadt will sich nicht erinnern“, rüttelten auf. Aus ihrem Erbe stammt der Schrank im Foyer, in dem jetzt die Gegenstände aus der Liturgie der Synagoge untergebracht sind. Ursprünglich hatte er der Familie Frank gehört.

Der Arbeitskreis „Jüdische Gemeinde Wittlich“, der sich 1988 gegründet hatte, hatte im Jahr 1990 eine erste Ausstellung organisiert. Auch hier war es im Vorfeld noch sehr schwierig, Zeitzeugen zu finden, die bereit waren, etwas über die Geschichte zu erzählen. Während der Ausstellung, als man plötzlich auf den Stühlen und an der Wand die Namen der Mitschülerinnen oder ehemaligen Nachbarn lesen konnte, schien so etwas wie der Bann gebrochen.

Die Begegnung mit den ehemals Wittlicher Juden beim großen Besuch 1991 anlässlich des 700-jährigen Stadtjubiläums war sicher für alle, die dabei waren, eine sehr tiefgehende Erfahrung.

Der Gedenkstein bekam seinen Platz, die Dauerausstellung wurde 1993 eröffnet. Die Gestaltung entsprach dem damaligen Zeitgeist und ist jetzt geändert, aber der Katalog ist nach wie vor lesenswert.

2022

Nochmal dreißig Jahre später sind wir im Heute angekommen. Auch in diesen dreißig Jahren ist viel passiert. 1996 veröffentlichte Maria Wein-Mehs ihre grundlegende Arbeit über die Juden in Wittlich, ebenso das Buch über den Friedhof, zusammen mit Reinhold Bohlen. Viele Informationen daraus sind in die neue Ausstellung eingeflossen. Weitere Veröffentlichungen verschiedener Autoren kamen dazu, zuletzt die sehr differenzierte Arbeit von Franz-Josef Schmit mit Beiträgen zum Nationalsozialismus in Wittlich.

1997 wurde das Emil-Frank-Institut gegründet, das sich inzwischen einen Namen weit über die Stadt hinaus gemacht hat, sowohl als Forschungsstätte als auch als Institution, bei der die Weitergabe an die nächste Generation eine wichtige Rolle spielt. Hier und an anderen Beispielen wird deutlich, dass inzwischen auch die Zusammenarbeit mit der Stadt Wittlich sehr gut funktioniert. Die neue Ausstellung ist ein gutes Beispiel dafür. Ohne das finanzielle und personale Engagement der Stadt hätte sie nicht realisiert werden können, und dafür gilt ihr unser Dank!

Das Emil-Frank-Institut, ebenso wie die Homepage des Arbeitskreises, ist aber auch Anlaufstelle für Nachkommen der aus Wittlich vertriebenen Juden. Immer wieder gibt es neue Kontakte, und es wurden und werden auch Dinge aus dem Nachlass der Verwandten dem Institut übergeben. Einiges davon hat jetzt auch Eingang in die neue Ausstellung gefunden. Ohne die vielen Bücher und andere Gegenstände aus dem persönlichen Besitz derer, die unter Zwang die Stadt verlassen mussten, wäre diese Ausstellung nicht so lebendig geworden. Aktuell freuen wir uns auf den Besuch des Enkels von Lehrer Hartmann mit seiner Familie aus Israel im Dezember.

Was will die neue Ausstellung?

Die große Zielrichtung hat sich nicht geändert. Die Ausstellung will, wie auch ihre Vorgänger, die Erinnerung an die jüdische Gemeinde in Wittlich wachhalten und an die kommenden Generationen weitergeben. Sie will der Opfer des brutalen Endes in der Nazi-Zeit gedenken.
Aber sie will auch zeigen, dass Juden über lange Zeit immer wieder, trotz Unterbrechungen, ein wichtiger Teil der Geschichte der Stadt Wittlich und der ganzen Region waren. Auf der Tafel über die Dublons im ersten Obergeschoss können Sie die Geschichte dieser Familie über mehr als 200 Jahre verfolgen. Und ein Gebetbuch, mehr als 250 Jahre alt, fand seinen Weg von Cordoba in Spanien nach Niederemmel an der Mosel und zeugt von der langen Geschichte der Juden hier in der Region.


Gliederung
Mehr als die alte Ausstellung gliedert sich die neue in verschiedene Themenbereiche. Die strenge Form wurde verlassen, die Tafeln sind farbiger und in ihrer Größe vielfältiger geworden. Und es sind mediale Elemente dazugekommen, wie die große Medienstation im ersten Obergeschoss und der Bildschirm mit den Porträts jüdischer Persönlichkeiten an der Wand zum Treppenhaus.
Im Erdgeschoss steht, wie bisher, zunächst das Gedenken an die Opfer des Holocausts im Mittelpunkt. Dafür steht besonders der Gedenkstein und das ihm zugeordnete Gedenkbuch, das einen neuen Platz gefunden hat.

Während die Geschichte der Synagogengebäude, wie bisher, im Hauptraum, in dem wir uns befinden, unverändert dargestellt wird, ist mit den Objekten im Schrank und der benachbarten Vitrine ein Schwerpunkt zur Liturgie in der Synagoge entstanden. Das setzt sich fort mit dem Bereich Friedhof im Raum der Garderobe. Im ersten Obergeschoss geht es um das Leben der jüdischen Familien in Wittlich und ihre beruflichen Tätigkeiten.
Im zweiten Obergeschoss werden einerseits die jungen Menschen im Zusammenhang mit der Schule und ihrem Leben als Jugendliche unter den Vorzeichen des Nationalsozialismus thematisiert. Ein weiterer Schwerpunkt ist aber dann auch die Geschichte des Nationalsozialismus und die Katastrophe der Enteignung und Vertreibung der jüdischen Bürger in den Jahren 1933-1945. Viel stärker als zuvor kommen dabei die Täter in den Blick.

Brüche

Die Geschichte der Juden in Wittlich ist von Brüchen bestimmt. Hätte es den radikalen Abbruch in der Nazi-Zeit nicht gegeben, würden wir hier heute nicht sitzen, sondern die Synagoge wäre nach wie vor für den Gottesdienst da. Deutlich wird dies hier im Raum dadurch, dass vorne eine Lücke klafft, wo einmal der Toraschrein gestanden hat.

Auch in der Gestaltung der neuen Ausstellung werden Brüche deutlich. Zunächst mal eher unspektakulär. Die Ausstellung ist nicht durchgehend gestaltet wie eine Vorzeigewohnung in einem Hochglanzkatalog. Es gibt weiterhin Teile der alten Ausstellung, es gibt die Plakate, die zum hundertsten Jubiläum entstanden sind und hier im Hauptraum weiterhin hängen. Es gibt Originale und es gibt Kopien. Und es gibt Brüche – oder unerwartete Konstellationen? – durch die unterschiedliche Nutzung der Räume im Alltagsbetrieb.

Es gibt Gerätschaften, die man im Judentum für den Gottesdienst oder auch die häusliche Feier benutzt. Sie finden sie zum Teil im alten Schrank der Familie Frank; die, die für die Feiern zu Hause gedacht sind, im zweiten Obergeschoss. Dazu gehören die Rimonim, die Kronen, oder auch der Toraschild, die man bei dem Tragen der Torarollen in der Synagoge verwendet.

Keiner dieser Gegenstände stammt noch aus der Zeit der Wittlicher jüdischen Gemeinde – keiner weiß, wo diese geblieben sind. Die neuen Gerätschaften wurden für die Ausstellung von 1993 angeschafft, um deutlich zu machen, dass die jüdische Geschichte nicht nur aus Vergangenheit besteht, sondern dass es bis heute und heute wieder, auch in Deutschland, ein lebendiges Judentum gibt. Vor allem für Kinder und Jugendliche soll damit bei Führungen auch ein kleiner Einblick in die religiöse Welt des Judentums möglich werden.

Gerade dadurch wird aber auch der Bruch, der Abbruch der jüdischen Geschichte in Wittlich besonders deutlich. Schon seit 1993 befindet sich in der Vitrine neben dem Mahnmal ein großes Stück einer Torarolle. Jetzt sind kleinere Stücke dazugekommen, die im Schrank ihren Platz gefunden haben.
Torarollen sind die Gegenstände in einer Synagoge, die wirklich „heilig“ genannt werden können. Denn auf ihnen sind die fünf ersten Bücher der Bibel geschrieben. Sie sind kostbar, mit Hand geschrieben, man packt sie in einen prächtigen Mantel und trägt sie durch die Synagoge. Man berührt sie nicht mit den Händen, sondern geht sehr sorgsam damit um.

Wenn man die kümmerlichen Reste sieht, weiß man, wie tief die Verletzung war, die der Nationalsozialismus den Juden zugefügt hat. Die Rollen wurden brutal auf die Straße geschmissen, manche angezündet, viele für andere Zwecke missbraucht. Sie haben nach sehr langer Zeit ihren Weg zurück hier in die Synagoge gefunden. Jetzt sind sie Warnzeichen gegen allen Judenhass, gegen die Angriffe auf religiöse Überzeugungen anderer. Sie sind wie eine offene Wunde, eine Anklage gegen die, die damals zunächst heilige Gegenstände, dann Menschenleben missachtet und zerstört haben.
Unsere Hoffnung ist, dass das nicht wieder geschieht!


Einführungsrede von Dr. Marianne Bühler anlässlich der Eröffnungsfeier am 20.11.2022 in der ehemaligen Synagoge